Ich kann nicht Kästner lesen, ohne an die Bücherverbrennung zu denken. In Berlin war die zentrale Veranstaltung auf dem Opernplatz, genau gegenüber der Humboldt-Universität, sozusagen unter den Augen der Gebrüder Humboldt. Die Verbindung ist kein Zufall. Kästner bemerkt in einer Gedenkrede hellsichtig, dass sich die Studenten mit ihrer Beteiligung an dieser Aktion mit in Haftung für die Politik der Regierung nehmen ließen.
Heute erinnert ein unter den Pflaster liegender Raum mit leeren Bücherregalen an die Barbarei. Das Mahnmal ist eindrucksvoll schlicht und schwer zu finden. Im Moment liegt es fast in einer der allgegenwärtigen Baustellen unter den Linden. Am Rand steht Heines prophetischer Ausspruch, dass wer Bücher verbrennt, eines Tages auch Menschen verbrennt.
Mahnmahl Bücherverbrennung Opernplatz Berlin
Amazon und Orwells 1984
Ich habe mir die Frage gestellt, wie die Veränderung der Gesellschaft auch die Möglichkeiten der intelligenten Barbaren verändert.
Ich lese inzwischen viele Bücher als E-Book. Es ist bekannt dass die E-Book-Händler (oder vielleicht besser E-Book-Leserecht-Vermieter) dauernden Zugriff auf die Bücher behalten. Amazon hat vor einiger Zeit mal ausgerechnet Orwells 1984 gelöscht, als sich herausstellte, dass sie nicht die nötige Lizenz hatten. Sie haben sich zwar vielmals entschuldigt und gelobt, den Fehler nicht zu wiederholen, aber die Möglichkeit wurde eindrucksvoll demonstriert. Es ist bekannt, dass auch der Lesefortschritt und die Lesezeit protokolliert werden. Damit eröffnen sich Diktaturen oder auch aus dem Ruder laufenden demokratischen Regierungen neue Möglichkeiten. Eine dieser Möglichkeiten lässt sich direkt aus 1984 ableiten: In der dort dargestellten Gesellschaft ist die Hauptperson damit beschäftigt, alte Zeitungsberichte neuzufassen. Diese Arbeit ist in Zeiten von Datenbanken erheblich einfacher geworden, da nur noch ein Eintrag geändert werden muss. Zudem wäre es jederzeit möglich, Bücher durch „aktualisierte“ Fassungen zu ersetzten.
Kästner berichtet als Augenzeuge der Bücherverbrennung von Studenten, die sich einzelne Exemplare der eigentlich zu verbrennenden Bücher gesichert und nach Hause getragen haben. Das kann effektiv verhindert werden, indem man das entsprechende E-Book einfach löscht. Ein Zugriff auf die Datenbanken des Online-Händlers kann die Personen herausfiltern, die besonderes Interesse an in Nachhinein als gefährlich eingestuften Schriften hatten, indem man beispielsweise einen Schwellenwert für die Lesedauer definiert, das Interesse an vergleichbaren Schriften mit einbezieht oder die Kommentare, die der Leser eingegeben hat betrachtet. Was mir hier eingefallen ist, ist vermutlich nicht mal das kleine Einmaleins der Datenanalysten. Im Rahmen des NSA-Skandals wurde das ein oder andere zu den Möglichkeiten in meine Timeline gespült.
Schließlich eröffnet sich aus der Einkaufshistorie der Händler eine einfache Möglichkeit die Käufer von Büchern in der Papierversion zu entdecken und diese dann mal zu besuchen um sie zur Herausgabe des Exemplars zu bitten und sich auch sonst mal ein wenig umzuschauen.
Ich weiß, dass es noch eine Vielzahl elaborierter Methoden gibt, mit denen man Daten aus unterschiedlichen Quellen zu einem Gesamtbild zusammensetzten kann. Die Möglichkeiten sind vielfältig und täglich werden es mehr.
Was tun?
Wir müssen jetzt um unsere Bürgerrechte kämpfen. Wir müssen uns heute gegen Überwachungstechnologien aussprechen. Und wir müssen wachsam sein, wenn uns die Einschränkung der Freiheit als Kampf gegen das Verbrechen verkauft wird.
Kästner sagte in seiner Gedenkrede, dass die Ereignisse der Nazi-Zeit spätestens 1938 hätten bekämpft werden müssen. „Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“
Also nehmt nicht hin, wenn eure Rechte eingeschränkt werden. Seid aktiv gegen Bauernfänger, die leider überall in Europa Zulauf haben. Und wehrt euch gegen Unterdrückung und Angstmacherrei.
Ich möchte nicht erleben müssen, wenn es heißt: „Ich übergebe der digitalen Flamme die Bücher von…“
Ich bin schon seit der Kindheit ein großer Freund von Erich Kästner gewesen. Nach den Kinderbüchern habe ich dann die humoristischen Romane und die Lyrik kennen und lieben gelernt. Der Nachteil daran, einen toten Schriftsteller mit mittelgroßem Werk zu mögen ist, dass man recht schnell den größten Teil kennt. Es gibt, wie ich jetzt gelernt habe, noch viele kürzere Texte (oft unter Pseudonym veröffentlicht), die ich nicht gelesen habe. Die Hauptwerke habe ich aber alle vor mehr als zwanzig Jahren in einem Rutsch verschlungen. Damit bleibt mir das Vergnügen einen Roman von Kästner das erste Mal zu lesen wohl für immer verwehrt.
Ich habe den Fabian immer für den besten Roman von Kästner für Erwachsene gehalten. Deshalb habe ich meine Zurückhaltung, Bücher erneut zu lesen überwunden und wurde belohnt.
Die Geschichte eins zeitgeschichtlichen Romans
Das Buch wurde 1930/31, also in der Zeit der Weltwirtschaftskrise geschrieben und spielt überwiegend im Berlin der damaligen Zeit. Es war die produktivste Zeit in Kästners Leben und die Zeit in der er seinen Ruf als Chronist der Weimarer Republik erworben hat. Es war ein großer Publikumserfolg, auch (oder vielleicht auch weil) es von konservativer Seite und den aufkommenden Nazis bekämpft wurde. Dieses Buch war, neben seiner kritischen Lyrik, der Grund, wieso Kästner in der Nazizeit geächtet und seine Bücher verbrannt wurden. Er war der einzige Autor, der auf dem Opernplatz bei der zentralen Veranstaltung anwesend war und auch erkannt wurde.
Der Fabian wurde 1931 in einer überarbeiteten Fassung veröffentlicht, da der Verlag der Meinung war ein Kapitel den Lesern nicht zumuten zu können. Darüber hinaus wurden viele kleinere Streichungen vorgenommen. Um die Lücke zu füllen wurde eine komplette Szene neu geschrieben. Alle folgenden Auflagen haben sich an dieser veränderten Version orientiert, auch wenn das weggelassene Kapitel einzeln veröffentlicht wurde. Vor einiger Zeit hat der Kästner-Kenner Sven Hanunschek die Aufgabe vollendet, eine Neuausgabe herauszugeben, die dem Original entsprechen soll. Dazu wurde das erhaltene Originaltyposkript aus dem Literaturarchiv Marbach herangezogen. Die editorische Arbeit wird im Anhang ausführlich dokumentiert.
Die Neuausgabe erhielt den Titel „Der Gang vor die Hunde“.
Ein zeitgenössischer Roman von erstaunlicher Frische
Kästner war als Autor in dieser Zeit in Bestform. Der Roman wirkt von der Form und den verwendeten Mitteln her sehr modern. Das was heute modern wirkt, wurde ihm vor 80 Jahren angekreidet: Das Buch hat keinen durchgehenden Handlungsbogen sondern ist eine Kollage von Szenen, die der Protagonist Fabian, ein Dr. der Germanistik, erlebt. Die Geschichte führt in Untergrundkneipen, Bordelle, in die Nähe von Straßenschlachten und in diverse Betten.
Die, aus heutiger Sicht harmlose, Schilderung erotischer Erlebnisse hat viel zur Verfolgung durch die Nazis beigetragen, da Kästner der Vorwurf der Pornographie gemacht wurde. Mich hat die Schilderung einer Gesellschaft in Niedergang erneut mitgerissen. Ich spare mir eine Inhaltsskizze, da ich Euch zum Lesen animieren möchte. Fabian taumelt ohne Ziel durch die Zeit und ist dabei ein scharfer, zunehmend verbitterter werdender Beobachter.
Die einzige Stilkritik, die ich äußern möchte ist, dass alle Menschen denen er begegnet den selben lakonischen Ton haben. Ich liebe diesen Ton, aber er passt nicht zu allen Zufallsbekanntschaften. Ansonsten ist es diese spezielle Mischung aus lakonischen, manchmal auch zynischen Äußerungen gepaart mit einer tiefen Menschenfreundlichkeit und der Verzweiflung an den Verhältnissen, die Kästner hier zur Perfektion bringt.
Der Fabian und mein Berlin: „Lernt schwimmen“
Als ich den Fabian zum erstmals gelesen habe, kannte ich Berlin nicht. Einige Bauten waren mir aus den Medien vertraut, aber ich hatte keine Landkarte im Kopf. Beim Wiederlesen ist mir aufgefallen, wie sorgsam Kästner die Schauplätze auswählt. Er hat viele Touren durch die Stadt gemacht um die passenden Orte zu finden. Zudem gibt es die Vermutung, dass er einige der Etablissements, in die er die Leser führt, aus eigener Anschauung kannte. Er war ja bekanntermaßen kein Kind von Traurigkeit.
Das Wiedererkennen hat mich tiefer in die Geschichte gezogen. So steht der Roland, wie ich täglich auf meinem Weg zur Arbeit kontrollieren kann, immer noch in seiner Nische am Märkischen Museum. Nebenan ist eine Traditionskneipe, in der die geschilderte Auseinandersetzung zwischen einem Kommunisten und einem Nazi ihren Ausgangspunkt genommen haben kann. Nur die Chinesische Botschaft war wohl noch nicht da.
Manches ist gleich geblieben und hat sich doch verändert. Die bedeutenden Gebäude, die von Fabian und seinem Freund Labunde satirisch missverstanden werden, sind immer noch da. Man kann die Tour nachvollziehen, wenn man sich in der 100er Bus setzt. Die Aufregung, die die satirische Deutung hervorgerufen hat, ist aber nicht mehr nachvollziehbar, da die symbolische Aufladung glücklicherweise in den 80 Jahren seit Erscheinen geschwunden ist. Der Wedding ist immer noch speziell und an der Müllerstraße, in der Fabian ein Bett wärmt, liegt nicht ohne Grund die größte Liegenschaft des Jobcenters.
Auch wenn Berlin zur Zeit im Aufschwung und nicht im Niedergang ist, konnte ich einiges von meinem Lebensgefühl wiederentdecken. Berlin ist ein toller Platz zum Leben, wenn man fest auf den Füßen steht. Dann gibt es alles was man sucht, vieles was man nicht gesucht hat und einiges, was man lieber nicht gefunden hätte. Ein Problem hat man, wenn man den eigenen Standpunkt verliert. Berlin braucht mich und dich und eigentlich alle anderen nicht.
Einen Teil der Verzweiflung, die Fabian spürt, erlebe ich oft bei meiner Arbeit. Es sind dabei nicht nur Menschen mit geringer Qualifikation, die ein Problem haben, sondern alle die irgendwann den Anschluss verloren haben, krank wurden oder auch einfach nur Pech hatten. Sie alle erleben, dass sie nicht gebraucht werden, dass sie überflüssig sind und dass die Stadt nicht auf sie gewartet hat. Auch diesen Menschen hat Kästner ein Denkmal gesetzt. Also: „Lernt schwimmen“.
Meine Aufforderung: Wenn Du den Fabian noch nicht kennst, solltest Du ihn lesen. Wenn Du ihn kennst, lies ihn nochmal!
Erich Kästner, Sven Hanuschek (Hg.)
Der Gang vor die Hunde
Atrium 2013
ISBN: 978-3-85535-391-0
In diesem Blog sammelt jemand Korrelationen, die offensichtlich nicht kausal sind. Das freut den Sozialwissenschaftler. Wir haben im Studium immer nur die Korrelation zwischen der Storchenpopulation und der Geburtenrate präsentiert bekommen, um uns auf die Notwendigkeit der Drittvariablenkontrolle zu sensibilisieren.
Ein Korrelationskoeffizient von -0.78 zwischen der Anzahl an Doktoraten in Soziologie und den Morden mittels Gewehren ist da schon beeindruckend.
Ich habe bei meinen Studienarbeiten nie einen Korrelationskoeffizienten von mehr als +/- 0,5 entdeckt und da hatte ich eine passende Theorie. Typisch war die Situation, dass ein Koeffizient von 0,3 als unerheblich, einer von 0,4 als Bestätigung der Theorie zu erklären war. Kein Wunder, dass Sheldon Cooper Soziologie verachtet.
Zu meiner Entschuldigung muss ich allerdings sagen, dass wir für unsere Studienarbeiten immer nur Testdaten zur Verfügung hatten. Es wurden jährlich Befragungen zu verschiedenen Themenkomplexen durchgeführt und die Studierenden bekamen dann die kompletten Datensätze zu Übungszwecken zur Verfügung gestellt. Das heißt wir mussten uns unsere Theorien nach den Fragen zusammenbasteln und nicht umgekehrt. Das Geld für eine echte Befragung hatte natürlich niemand.
Immerhin habe ich mir eine starke Skepsis gegenüber mutigen Deutungen von Umfragedaten bewahrt. Die meisten Schlussfolgerungen, die uns beispielsweise im Politbarometer präsentiert werden, halte ich aus den präsentierten Ergebnissen für nicht zwingend.
Aber darauf wollte ich gar nicht hinaus. Das Problem mit der Korrelation wird auch mal wieder vom wunderbaren xkcd erklärt:
Nachtrag: Mir ist noch aufgefallen, dass es sich bei dem im Comic gezeigten Fehler eigentlich um einen „Post hoc ergo propter hoc“ (wenn etwas danach passiert ist es deswegen) Fehler handelt, da es sich um einzelnes Ereignis und nicht eine statistische Menge von Ereignissen handelt.
Anmerkung: Ich habe in diesem Beitrag erstmals Fremdmaterial direkt verwendet. Die Grafiken stehen unter CC-Lizenzen und ich hoffe, den Lizenzbedingungen gerecht geworden zu sein. Wenn es jemand besser wissen sollte, bitte ich um Nachricht, damit ich nachbessern kann.
Die Ai Weiwei Ausstellung „Evidence“ wurde ja im gesamten Feuilleton rauf und runter besprochen. Deshalb habe war ich neugierig, sie mir auch anzusehen. Es ist einer der Vorteile in einer Metropole zu leben, dass solche Veranstaltungen direkt vor der Tür stattfinden, auch wenn Düsseldorf da auch so dass ein oder andere zu bieten hatte.
Ich habe das Wirken von Ai Weiwei in den letzten Jahren verfolgt und wollte die Gelegenheit, mir seine Werke anzusehen, nicht entgehen lassen. Die Vorberichterstattung, nach dem es ihm weder möglich war die Ausstellung vor Ort zu konzipieren, noch sie zu eröffnen, hat mich zusätzlich neugierig gemacht.
Ich muss zugeben, mich mit Kunsttheorie und den aktuellen Trends in der darstellenden Kunst nur ganz am Rande beschäftigt zu haben. Mein Zugang zu moderner Kunst funktioniert also überwiegend über den ästhetischen Eindruck. Dabei bin ich konzeptioneller Kunst durchaus zugetan. So bin ich mit einer Mischung aus Erwartung, Neugier und zugegeben einer gewissen Skepsis auf die Ausstellung zugegangen.
Da meine Schwester zu Besuch ist und auch Lust auf die Ausstellung hatte, haben wir uns bei schlechtem Wetter in die Schlange vor dem Martin-Gropius-Bau gestellt. Wir mussten etwa 1/2 Stunde warten. Ich weiß nicht, wie voll es an Tagen ist, die keine Brückentage mit schlechtem Wetter sind. Die Berichte, dass die Publikumsresonanz niedriger als erwartet ist, kann ich jedenfalls nicht bestätigen.
Hocker (Stools)
Direkt von der Kassenhalle kommt man in die glasgedeckte Haupthalle des Museums. Dort wird man von 6000 Hockern empfangen, die im tiefer gelegenen Teil arrangiert sind. Die Hocker weisen alle Gebrauchsspuren auf, sind alle ähnlich und doch jeder ein Unikat. Der ästhetische Eindruck ist großartig und kann von meinem Handyfoto nicht wirklich eingefangen werden.
Die Beschreibung war von einer Besuchergruppe umlagert und so haben wir sie zunächst ignoriert. Ich war vom Auftakt so angetan, dass meine Skepsis zunächst verschwand. Von der Haupthalle ging es dann weiter in die kleineren Ausstellungsräume.
Inseln aus Marmor, Vasen, Tierkreiszeichen und Marmortüren
Im ersten Raum waren stilisierte marmorne Modelle einer Inselgruppe zu sehen, um die sich China und Japan streiten. Das Kunstwerk soll für den Konflikt sensibilisieren. Ich wurde dadurch nur wenig sensibilisiert und bin recht bald in den Nachbarraum gegangen. Dort standen Han-Dynastie-Vasen, die mit Autolack bekannter Konzerne überzogen waren, um den Einfluss der ausländischen Wirtschaft auf die chinesische Kultur zu thematisieren.
Die faktische Zerstörung von historischen Gegenständen, um daraus neue Kunst zu schaffen, wirft für mich Fragen auf: Wie ist diese kreative Zerstörung zu bewerten? Darf der das tun? Ich habe darauf keine eindeutige Antwort. Auch wenn das ästhetische Erlebnis nur so mittel war, hat dieses Kunstwerk für mich „funktioniert“. Ich möchte meine nächste Han-Vase aber dann doch lieber nicht in silbergrau-metallic.
Nun folgten die Tierkreiszeichen (circle of animals), die mir aus dem Werk Ai Weiweis schon bekannt waren. Es handelt sich um Nachbildungen (oder Neuinterpretationen) von Skulpturen aus einem Pekinger Palastgarten. Die wechselvolle Geschichte der Originale wird ausführlich dargestellt und das Gesamtbild beeindruckt. Es handelt sich dabei aber im wesentlichen um Kopien, die bei mich an der Eigenständigkeit als Kunstwerk zweifeln ließen.
Im nächsten Raum waren antike Türen in Marmor nachgebildet um auf die Zerstörung von Kulturgütern hinzuweisen. So langsam erkennt man ein Muster: Objekte stehen nicht für sich, sondern dienen nur als Symbole für ein Unrecht, auf das sie hinweisen. Ist etwas wichtig, ist es aus Marmor. Ai Weiwei liebt Marmor. Bei mir machen sich erste Zweifel breit, ob das Konzept für mich stark genug ist.
Baustahl in Marmor und ganz viel Verfolgung Ai Weiweis
Als nächstes haben wir uns die künstlerische Aufarbeitung des Einsatzes für die Opfer eines Erdbebens angesehen. Beim Einsturz von Gebäuden sind offenbar viele Menschen, insbesondere Schulkinder, gestorben, da die Baustandards nicht eingehalten wurden. Wir wurden darüber informiert, dass die Behörden die Aufklärung massiv behindert hätten und es liegt der Gedanke nahe, das Korruption im Spiel war. Die ästhetische Qualität konnte da meiner Meinung nach nicht mithalten:
Verbogener Baustahl in Marmor (sic!) nachgebildet, naja.
Möbelähnliche Gebilde aus verbogenem Baustahl, unbefriedigend.
Verbogener Baustahl in einem Raum drapiert, während man informiert wird, dass die Gehilfen von Ai Weiwei massenweise verbogenen Stahl gerade gebogen hätten, unverständlich und irgendwie retro.
Dann kommt die Abteilung Ai Weiwei in der Selbstbespiegelung: Reste seines zerstörten Ateliers werden als Schrein drapiert. Er bildet Kleiderbügel nach, die er im Gefängnis hatte, um darauf hinzuweisen, dass er keine anderen Kleiderbügel hatte oder so ähnlich. Es gibt Handschellen aus Jade (aus unverständlichen Gründen diesmal kein Marmor), da er ja auch Handschellen tragen musste und noch vieles andere. Die Wände sind mit Schuldscheinen tapeziert, die er ausgegeben hat, als er sehr kurzfristig eine Steuerstrafe bezahlen musste, deren Berechtigung er bestreitet.
Alle Objekten stahlen aus: Ich bin ein Märtyrer, der viel Ungerechtigkeit ertragen muss. Ästhetisch halten sie allerdings nicht stand.
Der Höhepunkt dieser Abteilung ist der Nachbau einer Zelle, in der Ai Weiwei 81 Tage gefangen gehalten wurde. Da man sich dafür nochmal lange anstellen musste, habe ich sie nur von außen gesehen.
Dort lief auch ein von Weiwei konzipiertes und selbst gespieltes Video, in dem er seine Erfahrungen reflektiert. Es mischen sich Realität und Tagträume während der Isolationshaft. Die traumatischen Erfahrungen werden durch die Bildsprache deutlich. Das ist wieder stärker.
Lange Filme, pubertäre Fotos und Readymades
Zum Abschluss unseres Rundgangs konnte man sich Filme ansehen, die Zustände in Peking dokumentieren. So hat Ai Weiwei alle Straßen in einem vom Umbruch betroffenen Viertel Pekings abgefahren, dabei gefilmt und das Ergebnis zu einem 150 Stunden langen Film zusammen geschnitten. Ich habe ihn mir nicht ganz angesehen. Als Dokumentationsprojekt hat es möglicherweise seinen Wert, hat aber keine eigene ästhetische Sprache.
Nach einigen ähnlichen Projekten kam man in einen Raum, in dem 40 Bilder des ausgestreckten Mittelfingers des Künstlers vor meist bekannter Kulisse zu bestaunen waren. Mir war danach, diesen Teil der Ausstellung durch ein gleich gestaltetes Foto zu dokumentieren, habe den spätpubertären Gedanken dann aber verworfen.
Schließlich waren noch einige frühe Arbeiten ausgestellt, die teilweise das Konzept der Ready-mades aufnahmen. Auch in der Frühphase zeigt sich also ein Hang zum Nachbilden.
Noch mal Stools
Nach dem Rundgang sind wir wieder in die große Halle zurückgekehrt. Da wir inzwischen eine Vorstellung von der Konzeption der Erklärungstafeln hatten, haben wir überlegt, welches Unrecht oder welche Bedrängnis des Künstlers die Hocker darstellen sollen. Das Schild verrät, dass die Hocker teilweise mehrere hundert Jahre alt sind.
Es sind aber nur Hocker. Und sie bilden ein großartiges Kunstwerk.
Kritik auf hohem Niveau
Ich war am Ende enttäuscht. Ai Weiwei wird im Feuilleton als einer der größten lebenden Künstlern und als möglicherweise wichtigster chinesischer Kunstbotschafter dargestellt. Diesem Anspruch genügt er für mich am Ende nicht. Insgesamt sind die ästhetischen Mittel begrenzt, es fehlt die Eigenständigkeit, die einen großen Künstler unverwechselbar und wiedererkennbar machen. Er nimmt mehr von anderen Künstlern auf, als dass er selbst gibt.
Ai Weiwei ist ein politischer Aktivist. Die Repressionen, denen er in China ausgesetzt wird, sind bedrückend. Große Teile der Ausstellung sind eine Reflexion der Unterdrückung des Künstlers und sind alleine weder zu verstehen, noch ästhetisch befriedigend. Die Unterdrückung bildet so die Funktionsvoraussetzung für die Kunst. Im Umkehrschluss heißt das, dass die Kunst ohne die Unterdrückung nicht funktionieren würde. Damit wäre Ai Weiwei auf die Unterdrückung angewiesen um Kunst schaffen zu können. Ein verstörender Gedanke.
Vielleicht wäre er ohne Unterdrückung aber auch in der Lage mehr großartige Kunstwerke wie „stools“ zu schaffen.
Ai Weiwei – Evidence
3. April bis 7. Juli 2014
Öffnungszeiten
MI bis MO 10:00–19:00
DI geschlossen
Ab 20. Mai: Täglich 10:00–20:00
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstraße 7
10963 Berlin