Die Buch-Challenge

Ich wurde von Thomas auf Facebook für die Buch-Challenge nominiert und nutze die Gelegenheit mich wenigstens mal kurz zurückzumelden und über eines meiner Lieblingsthemen zu sprechen: Bücher.

Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation

Norbert Elias war der Autor, der mich in meinem Soziologie-Studium am stärksten geprägt hat. Sein Fortschrittsoptimismus gepaart mit Kenntnisreichtum war für mich eine Offenbarung. Die Bücher waren für mich wie Lyrik. Zudem hat er einen Hang zur Ethnographie. Diese Teildisziplin hat mich durch mein Studium begleitet. Mit Norbert Elias verbinde ich Autoren wie Marcel Maus (weit mehr als Emile Durkheim) oder Margrete Mead. Zu dieser Zeit kam die moderne Systemtheorie immer stärker in der Lehre an. Mit der technokratischen Sichtweise Luhmanns konnte ich mich nie  so recht anfreunden. Ich stand immer auf der Seite von Jürgen Habermas. Am Ende meines Studiums hatte ich den Plan, die Theorien von Luhmann und Elias zum Sozialen Wandel in einer Dissertation zu vereinen. Inzwischen bin ich froh, diesen Plan aufgegeben zu haben. Zum einen wäre das Thema kaum zu fassen gewesen, zum anderen muss ich eingestehen, dass die Systemtheorie mehr erklärt und darum geht es ja bei soziologischen Theorien. Nach meinem Zweitstudium bin ich inzwischen überzeugter Vertreter einer sozialen Systemtheorie. Die systemische Betrachtung ist ein unglaublich mächtiges Werkzeug um nahezu alle sozialen Phänomene zu erklären. Leider ist sie nicht leicht fassbar und ich leide immer wenn sie falsch verstanden angewendet wird (heute noch erlebt). Elias ist eleganter, erklärt aber weniger. Schade!

Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter

In der Oberstufe gehörte es bei uns zum guten Ton Minima Moralia gelesen zu haben. Damit hatte ich Adorno mehr als Essayisten, als als wichtigen Theoretiker abgespeichert. Während des Studiums habe ich dann die „Studien zum autoritären Charakter“ gelesen und war von der Klarheit der Gedanken, ihrer Originalität und der Sorgfalt der Ausarbeitung beeindruckt. Adorno hat es mit diesem Buch geschafft sich zwischen alle Stühle zu setzen. Das verdient meine Hochachtung. Es gibt eben kein richtiges Leben im Valschen.

Johann Wolfgang Goethe: Faust

Eigentlich müsste dieses Buch wegen Offensichtlichkeit sofort rausfliegen. Es steht nicht auf der Liste, weil es von Vielen für das wichtigste deutsche Buch gehalten wurde, sondern weil es von meinem Vater für das wichtigste deutsche Buch gehalten wurde. So habe ich wohl schon Goethe-Zitate gehört bevor ich laufen konnte. Meine Eltern haben mich von Kindesbeinen an für Kultur zu interessieren gesucht. Ich bin mit Büchern aufgewachsen und schon in jungen Jahren mit ins Stadttheater genommen worden. Später habe ich mich mit meinem Vater oft über seinen, meiner Meinung nach zu konventionellen, Kunstgeschmack auseinandergesetzt. Zu seinem letzten Geburtstag habe ich einen Schauspieler besorgt und ihn gebeten „Faust“ zu zitieren. Zu dem Auftritt ist es nicht mehr gekommen. Mein Vater ist an dem Tag gestorben.

Robert Gernhardt: Wörtersee

Ich mag Lyrik. Ich hasse Betroffenheitslyrik. Robert Gernhardt, Erich Kästner oder Kurt Tucholsky schreiben andere Lyrik. Möglicherweise sind die Verse nicht so wohlgesetzt wie die der deutsche Klassiker, dafür sind sie verständlich, witzig oder traurig, albern oder lehrreich. Gernhardt wurde von mir sicher am häufigsten zitiert und Kästner kommt noch. Im Übrigen: Hölderlin ist für mich kein Dichter! Sondern? Goethe!

Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis

Das Buch taucht schon auf Thomas Liste auf und wir haben vermutlich im Laufe der letzten 30 Jahre Tage damit verbracht darüber zu reden, es zu zitieren oder Anspielungen darauf zu machen. Deshalb habe ich es auch nicht durch „Die Letzten ihrer Art“ ersetzt, das mir mehr am Herzen liegt und das ich für Adams wichtigstes Buch halte. Der Anhalter ist aber das biographisch bedeutendere Buch und es beantwortet immerhin die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.

Theodor Storm: Der Schimmelreiter

Ich mag inzwischen eine magische Atmosphäre in Büchern, wie sie auch bei Haruki Murakami, Carlos Ruis Zafon Gabriel Garcia Marquez oder ganz anders auch bei Walter Moers vorkommt. Nachdem ich solche Elemente über Jahre abgelehnt habe, hat mich vor vielen Jahren Storm dazu gebracht, meine Haltung zu ändern. Darüber hinaus ist es ein richtig schönes Buch.

John Irving: Das Hotel New Hampshire

Ich glaube ich habe jedes Buch von Irving gelesen und erwarte immer noch Geschichten von Bären, Ringen, Neuengland und Wien. Das Hotel New Hampshire hat alle Elemente, ist eine anrührende Geschichte und daher mein Lieblingsbuch.

Sven Regener: Herr Lehmann

Wenn Herr Regener Interviews gibt bekomme ich regelmäßig das Gruseln und Element of Crime mag ich auch nur so mittel. Die Bücher mag ich aber sehr. Berlin ist nicht mehr so wie 1989 und ich bin auch nicht mehr so. Dann ist ja alles Gut. Die Leute die in den Büchern vorkommen, gab es so ähnlich auch in Krefeld. Einige Dialoge aus „Der kleine Bruder“ meine ich genauso im Milliways, einer nicht mehr existierenden Bar in Krefeld gehört zu haben. Auch die Verfilmung mit Christian Ulmen als Herr Lehmann gefällt mir gut. Jedes Mal wenn ich am Prinzenbad vorbeikomme, muss ich an das Buch denken. Es ist ein Buch über meine jungen Jahre und ein Buch über Berlin, dass ich zu dieser Zeit kaum kannte.

Erich Kästner: Fabian

Zum Fabian habe ich hier alles geschrieben.

Gabriel Garcia Marquez: 100 Jahre Einsamkeit

Noch ein ausländischer Autor. Ich schwanke zwischen Flan O’Brian und Marquez und habe mich am Ende für 100 Jahre Einsamkeit entschieden. Das ist vor allem meiner Verbindung zu Kolumbien geschuldet. Ich liebe die Charakterschilderungen und verschlungenen Geschichten. Vielleicht komme ich ja nochmal nach Kolumbien. Die Friedenszeichen aus diesem wunderschönen Land lassen mich hoffen.

Bad Religion im Huxleys

Sometimes music is better than fiction

Der folgende Bericht ist eine Hommage. Der Auftritt von Bad Religion war das beste Konzert auf dem ich seit Jahren war und mir laufen immer noch Schauer den Rücken runter, wenn ich daran denke. Also Achtung: Hier spricht der Fan.

Huxley’s Neue Welt: Konzertsaal mit Stil

Ich hatte beim Kartenkauf nicht auf den WM-Plan gesehen und deshalb nicht gemerkt, dass das Konzert am Tag des dritten Gruppenspiels der Deutschen Mannschaft war. Welch ein Glück, sonst hätte ich es mir möglicherweise noch überlegt. Das Spiel habe ich mir dann in einer Kneipe an der Hermannstraße angesehen. Vielleicht schreibe ich ja noch darüber.

Huxley’s Neue Welt ist ein ein Konzertsaal mit Geschichte und einer der schönsten mittelgroßen Locations die ich kenne. Die stilvolle Dekoration entschädigt voll für den Eingang, der mich an Zugang zum Saal des Soldatenruhmes auf dem Mamajew-Hügel erinnert. Der Raum selber ist gleichzeitig auf angenehme Art altmodisch und modern und hat mich sofort eingenommen. Leider kann mein Handy keine guten Fotos im Halbdunkel machen. Daher mein Tipp: Macht Euch selbst ein Bild.

Als ich kurz nach acht ankam, spielten gerade The Ghost Rockets aus Schweinfurt. Deren Auftritt war ordentlich, aber nicht begeisternd. Es ist aber wohl auch schwierig vor einem Saal zu spielen, der sich nur langsam füllt und zudem nicht wahnsinnig interessiert ist.

The Ghost Rockets

The Ghost Rockets

Danach kamen die Broadway Killers, die netten Punk-Rock aus Dänemark gespielt haben. Mir schien es so, als ob sie sich vor allem für ihren Soloauftritt im White Trash am nächsten Abend warm spielen wollten. Ich hatte Dänemark bisher nicht als Heimat des Punk-Rock auf dem Schirm.  Es handelte sich um einen typischen Auftritt einer Vorband: Sie waren gut genug, um das Publikum einzustimmen, aber nicht so stark, als dass sie dem Mainact gefährlich werden konnten.

 

Broadway Killers

Broadway Killers

 

Bad Religion: The godfathers of punk-rock

Der mit schätzungsweise 600 Besuchern inzwischen gut gefüllte Saal ließ erahnen, dass es Bad Religion schon länger gibt: Am Eingang wurde 16-Jährigen der Eintritt verwehrt, ein Vater war mit seinem etwa 10 Jahre alten Sohn da. Die Masse war irgendwas von Twentysomething bis in die Fünfziger. Die Kleidungsfarbe war Schwarz oder Schwarz oder Schwarz. Ich fühlte mich wohl und mir ist eingefallen, dass ich mein 20 Jahre altes Fan-T-Shirt zu Hause vergessen hatte. Dabei war das mein erstes Bad Religion Konzert. Irgendwie war bisher immer etwas dazwischen gekommen. Es kribbelte wie schon lange nicht mehr. Ich hatte mich in der Mitte etwa 10 Meter vor der Bühne postiert und wartete ungeduldig.

Dann ging das Licht aus und Bad Religion kam auf die Bühne und begann zu spielen: Kein episches Intro, keine aufwändigen Lichteffekte nur Rock ’n‘ Roll. Ich war mitgerissen. Das Set begann mit „Fuck You“ von der neuen Platte „True North“, die zwar an die alten Zeiten erinnert, aber für mich keine Ohrwurm ist. Schon da war mir klar: Greg Graffin ist eine coole Sau. Er wird bald 50, hat graue Haare (längst nicht mehr alle), trägt eine Brille und hat ein Bäuchlein. Er tobt nicht über die Bühne sondern arbeitet vor allem mit Gesten. Und er vermittelt den Eindruck das Publikum, die Band, die ganze Situation jederzeit mit völliger Selbstverständlichkeit absolut unter Kontrolle zu haben. Dabei wirkte er nie arrogant, sondern freundlich und zugewandt.

Bad Religion: Greg Graffin in Pose

Bad Religion: Greg Graffin in Pose

Das Publikum ging von Anfang an gut mit. Als dann als zweiter Song mit „Modern Man“ schon ein Klassiker gespielt wurde, kam zunehmend Bewegung in die Menge. Als dann einige weitere Hits folgten, begann ich zunehmend mitzuhüpfen. Bei „21 Century (Digital Boy)“ kannte ich dann kein Halten mehr und habe mich ins Getümmel gestürzt.

Ich bin ja nicht mehr Jung und meine Pogo-Zeiten liegen schon etwas zurück, aber ich musste einfach mitmachen. Die erste Erkenntnis war: Gelernt ist gelernt, die Zweite: Die Anderen sind toll. Es ging gut ab aber es gab keine wild rudernden Tänzer. Zwei Lieder später wurde es dann etwas ruhiger, da inzwischen kein Sauerstoff mehr in der näheren Umgebung war und alle nur noch nach Luft schnappten. Zu dem Zeitpunkt war ich schon gut angeschwitzt. Das Set ging überwiegend mit gut gemischten Hits aus den letzten 30 Jahren weiter. Ich war glücklich. Ich fühlte mich lebendig. Das Adrenalin sprudelte. Es war so großartig.

Ich habe mich dann in Richtung Bühne treiben lassen, hatte irgendwann den Boden unter den Füßen verloren und stand bald direkt vor der Bühne (Beweisfoto oben). Es folgte ein Knaller auf den Nächsten und es wurde klar, dass das Publikum zu großen Teilen aus echten Fans bestand, die die Texte von allen Liedern mitsingen konnten. Ich war unter Freunden.

Bad Religion Songs sind kurz. So konnten in 1  1/2 Stunden 30 Songs untergebracht werden (Setlist). Nach einer Zugabe war das Konzert genauso unspektakulär zu Ende, wie es begonnen hat. Ich hatte keinen trockenen Faden mehr am Körper und war einfach nur begeistert. In der U-Bahn saß mir ein Mann um die 50 gegenüber, der offenbar ähnliche Empfindungen hatte.

Habe ich eigentlich schon erzählt, dass ich das Konzert großartig fand? Es war so toll, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich nächstes Jahr wieder zu Bad Religion gehen werde, da es eigentlich nur schlechter werden kann. Wenn ich Songs vom Konzert höre, bekomme ich immer noch Gänsehaut. Danke für dieses Erlebnis.

Karneval der Kulturen 2014

Blindheit 2013

Das war genau genommen mein zweiter Besuch bein Karneval der Kulturen. Ich habe mit letztes Jahr mit einem guten Freund den Umzug angesehen und war nicht besonders begeistert. Irgendwie haben wir es aber geschafft das Straßenfest, auf dem sich einige 100.000 Menschen getummelt haben, zu übersehen. Dabei waren wir vielleicht 100 Meter davon weg. Den Umzug fanden wir nur so mittel spannend Wir waren deshalb nicht all zu lange da und sind dann nach Neukölln aufgebrochen. Fotos habe ich letztes Jahr nicht gemacht, aber googeln hilft.

Samstag und Sonntag: Ich habe den Karneval der Kulturen gefunden

Dieses Jahr war ich besser vorbereitet und habe mich auf der Webseite informiert. Die Seite gibt aber längst keinen vollständigen Eindruck von der Vielfältigkeit, die man dort erleben kann. Ich war etwas voreingenommen, da sich (soweit ich weiß zum ersten Mal in diesem Ausmaß) im Vorfeld einige Kritik bemerkbar gemacht hat.

Wenn man am Halleschen Tor ankommt, kann man von der U1 aus (das ist die U-Bahn, die auf Stelzen fährt) schon einen ersten Eindruck vom Getümmel erhalten. Der erste Musiker sitzt direkt am Ausgang der Haltestelle und gibt elektronische Töne von sich. Direkt auf der anderen Seite des Landwehrkanals steht schon die erste Bühne. Dort spielten die Bohemian Betyarsdie mit ihrem Speedfolk viel Spaß gemacht haben.

Bohemianbetyars auf dem Karneval der Kulturen 2014

Bohemian Betyars mit Kopf

 

Ich würde es Punk-Polka nennen, was die Jungs da gespielt haben. Die Lieder handeln, soweit aus den Ansagen ersichtlich vom Saufen von Frauen und Alkohol und Mädchen. Auf jeden Fall gingen die Musiker und das Publikum gut ab. Am Ende verkündeten sie, im Herbst nach Berlin ziehen zu wollen. Willkommen in Berlin.

Mulitkulti Fressmeile

Von dieser Bühne geht es dann in zwei Richtungen weiter. Man kann ein großes Karee ablaufen in dem sich Fressbude an Verkaufsstand reiht. Gerade an diesem Teil hat dich die Kritik am Karneval der Kulturen festgemacht. Meiner Schätzung nach könnte etwa die Hälfte der Stände auch auf einer rheinischen Kirmes stehen. Ein weiteres Viertel sind Verkaufsstände, die etwas ungewöhnlicher sind und das letzte Viertel ist wirklich speziell.

Unter diesen Ständen finden sich viele, die offensichtlich bereits seit längerem improvisiert sind. An einigen wird Live-Musik aus dem Herkunftsland gespielt, an vielen Folklore aus der Konserve. Es gibt skurrile Schilder wie an einem Stand an dem „polnisches Volksholz“ angeboten wurde. Am Ende waren es nur Schnitzwerk unseres östlichen Nachbarn. Ich muss mal dringend die Bekannten, die gerne Biere ausprobieren zu Pfingsten nach Berlin locken. Das Angebot an außergewöhnlichen Bieren aus aller Welt reicht für mehr als drei Tage, eher drei Monate.

Ist diese Verteilung von reinem Kommerz und Außergewöhnlichem nun gut oder schlecht? Ich bin am Ende nicht ganz entschieden. Es wird wohl auch zur Finanzierung beitragen und so geht es wohl noch in Ordnung.

Karneval der Kulturen auf dem Blücherplatz

In der Mitte der Fressmeile liegt der Blücherplatz, auf dem viele Kulturvereine etwas veranstalten. So habe ich Spanier (oder Katalanen?) beim Pyramiden bauen gesehen.

Spanische Pyramide auf dem Karneval der Kulturen

Spanier beim Hochstapeln

Daneben bot ein türkischer Kulturverein die ganze Zeit Programm. So habe ich zum ersten Mal die türkische Folklore, die relativ wenig dynamisch ist (Ich habe keine Ahnung wie man sie nennt), live gesehen. Der Sänger war so unbeweglich, wie die Musik dynamisch ist.  Ich habe erstmals verstanden, wieso man diese Musik mögen kann. Zudem gab es dort Fleisch im Brot sowie Bier zu zivilen Preisen.

Auch nach Einbruch der Dunkelheit war der Blücherplatz sehr gut besucht. Aus allen Ecken tönt Musik. Das ganze wirkt erfrischend unorganisiert, tolerant und vielfältig. Hier ist wirklich „Karneval der Kulturen“.

Am Ende habe ich das Straßenfest als genau das erlebt: Ein Fest für die Menschen, die in aus aller Welt nach Berlin gekommen sind um hier zu leben oder auch nur um einige gute Tage zu verbringen. Wenn sich der Kommerz weiter im Rahmen hält, kann es noch für viele Jahre ein tolles Fest sein. So ist es auf jeden Fall eine absolute Empfehlung von mir.

 

 

 

Was bliebe von Ai Weiweis Kunst, wenn er nicht politisch verfolgt würde?

Ein Ausflug in die Kunstkritik


 

Die Ai Weiwei Ausstellung „Evidence“  wurde ja im gesamten Feuilleton rauf und runter besprochen. Deshalb habe war ich neugierig, sie mir auch anzusehen. Es ist einer der Vorteile in einer Metropole zu leben, dass solche Veranstaltungen direkt vor der Tür stattfinden, auch wenn Düsseldorf da auch so dass ein oder andere zu bieten hatte.

Ich habe das Wirken von Ai Weiwei in den letzten Jahren verfolgt und wollte die Gelegenheit, mir seine Werke anzusehen, nicht entgehen lassen. Die Vorberichterstattung, nach dem es ihm weder möglich war die Ausstellung vor Ort zu konzipieren, noch sie zu eröffnen, hat mich zusätzlich neugierig gemacht.

Ich muss zugeben, mich mit Kunsttheorie und den aktuellen Trends in der darstellenden Kunst nur ganz am Rande beschäftigt zu haben. Mein Zugang zu moderner Kunst funktioniert also überwiegend über den ästhetischen Eindruck. Dabei bin ich konzeptioneller Kunst durchaus zugetan. So bin ich mit einer Mischung aus Erwartung, Neugier und zugegeben einer gewissen Skepsis auf die Ausstellung zugegangen.

Da meine Schwester zu Besuch ist und auch Lust auf die Ausstellung hatte, haben wir uns bei schlechtem Wetter in die Schlange vor dem Martin-Gropius-Bau gestellt. Wir mussten etwa 1/2 Stunde warten. Ich weiß nicht, wie voll es an Tagen ist, die keine Brückentage mit schlechtem Wetter sind. Die Berichte, dass die Publikumsresonanz niedriger als erwartet ist, kann ich jedenfalls nicht bestätigen.


 

Hocker (Stools)

Direkt von der Kassenhalle kommt man in die glasgedeckte Haupthalle des Museums. Dort wird man von 6000  Hockern empfangen, die im tiefer gelegenen Teil arrangiert sind. Die Hocker weisen alle Gebrauchsspuren auf, sind alle ähnlich und doch jeder ein Unikat. Der ästhetische Eindruck ist großartig und kann von meinem Handyfoto nicht wirklich eingefangen werden.

Die Beschreibung war von einer Besuchergruppe umlagert und so haben wir sie zunächst ignoriert. Ich war vom Auftakt so angetan, dass meine Skepsis zunächst verschwand. Von der Haupthalle ging es dann weiter in die kleineren Ausstellungsräume.

 

Chairs

 


 

Inseln aus Marmor, Vasen, Tierkreiszeichen und Marmortüren

Im ersten Raum waren stilisierte marmorne Modelle einer Inselgruppe zu sehen, um die sich China und Japan streiten. Das Kunstwerk soll für den Konflikt sensibilisieren. Ich wurde dadurch nur wenig sensibilisiert und bin recht bald in den Nachbarraum gegangen. Dort standen Han-Dynastie-Vasen, die mit Autolack bekannter Konzerne überzogen waren, um den Einfluss der ausländischen Wirtschaft auf die chinesische Kultur zu thematisieren.

Die faktische Zerstörung von historischen Gegenständen, um daraus neue Kunst zu schaffen, wirft für mich Fragen auf: Wie ist diese kreative Zerstörung zu bewerten? Darf der das tun? Ich habe darauf keine eindeutige Antwort. Auch wenn das ästhetische Erlebnis nur so mittel war, hat dieses Kunstwerk für mich „funktioniert“. Ich möchte meine nächste Han-Vase aber dann doch lieber nicht in silbergrau-metallic.

Nun folgten die Tierkreiszeichen (circle of animals), die mir aus dem Werk Ai Weiweis schon bekannt waren. Es handelt sich um Nachbildungen (oder Neuinterpretationen) von Skulpturen aus einem Pekinger Palastgarten. Die wechselvolle Geschichte der Originale wird ausführlich dargestellt und das Gesamtbild beeindruckt. Es handelt sich dabei aber im wesentlichen um Kopien, die bei mich an der Eigenständigkeit als Kunstwerk zweifeln ließen.

 

Hund

 

Im nächsten Raum waren antike Türen in Marmor nachgebildet um auf die Zerstörung von Kulturgütern hinzuweisen. So langsam erkennt man ein Muster: Objekte stehen nicht für sich, sondern dienen nur als Symbole für ein Unrecht, auf das sie hinweisen. Ist etwas wichtig, ist es aus Marmor. Ai Weiwei liebt Marmor. Bei mir machen sich erste Zweifel breit, ob das Konzept für mich stark genug ist.


 

Baustahl in Marmor und ganz viel Verfolgung Ai Weiweis

Als nächstes haben wir uns die künstlerische Aufarbeitung des Einsatzes für die Opfer eines Erdbebens angesehen. Beim Einsturz von Gebäuden sind offenbar viele Menschen, insbesondere Schulkinder, gestorben, da die Baustandards nicht eingehalten wurden. Wir wurden darüber informiert, dass die Behörden die Aufklärung massiv behindert hätten und es liegt der Gedanke nahe, das Korruption im Spiel war. Die ästhetische Qualität konnte da meiner Meinung nach nicht mithalten:

Verbogener Baustahl in Marmor (sic!) nachgebildet, naja.

Möbelähnliche Gebilde aus verbogenem Baustahl, unbefriedigend.

Verbogener Baustahl in einem Raum drapiert, während man informiert wird, dass die Gehilfen von Ai Weiwei massenweise verbogenen Stahl gerade gebogen hätten, unverständlich und irgendwie retro.

Dann kommt die Abteilung Ai Weiwei in der Selbstbespiegelung: Reste seines zerstörten Ateliers werden als Schrein drapiert. Er bildet Kleiderbügel nach, die er im Gefängnis hatte, um darauf hinzuweisen, dass er keine anderen Kleiderbügel hatte oder so ähnlich. Es gibt Handschellen aus Jade (aus unverständlichen Gründen diesmal kein Marmor), da er ja auch Handschellen tragen musste und noch vieles andere. Die Wände sind mit Schuldscheinen tapeziert, die er ausgegeben hat, als er sehr kurzfristig eine Steuerstrafe bezahlen musste, deren Berechtigung er bestreitet.

Alle Objekten stahlen aus: Ich bin ein Märtyrer, der viel Ungerechtigkeit ertragen muss. Ästhetisch halten sie allerdings nicht stand.

Der Höhepunkt dieser Abteilung ist der Nachbau einer Zelle, in der Ai Weiwei 81 Tage gefangen gehalten wurde. Da man sich dafür nochmal lange anstellen musste, habe ich sie nur von außen gesehen.

Dort lief auch ein von Weiwei konzipiertes und selbst gespieltes Video, in dem er seine Erfahrungen reflektiert. Es mischen sich Realität und Tagträume während der Isolationshaft. Die traumatischen Erfahrungen werden durch die Bildsprache deutlich. Das ist wieder stärker.

 


 

Lange Filme, pubertäre Fotos und Readymades

Zum Abschluss unseres Rundgangs konnte man sich Filme ansehen, die Zustände in Peking dokumentieren. So hat Ai Weiwei alle Straßen in einem vom Umbruch betroffenen Viertel Pekings abgefahren, dabei gefilmt und das Ergebnis zu einem 150 Stunden langen Film zusammen geschnitten. Ich habe ihn mir nicht ganz angesehen. Als Dokumentationsprojekt hat es möglicherweise seinen Wert, hat aber keine eigene ästhetische Sprache.

Nach einigen ähnlichen Projekten kam man in einen Raum, in dem 40 Bilder des ausgestreckten Mittelfingers des Künstlers vor meist bekannter Kulisse zu bestaunen waren. Mir war danach, diesen Teil der Ausstellung durch ein gleich gestaltetes Foto zu dokumentieren, habe den spätpubertären Gedanken dann aber verworfen.

Schließlich waren noch einige frühe Arbeiten ausgestellt, die teilweise das Konzept der Ready-mades aufnahmen. Auch in der Frühphase zeigt sich also ein Hang zum Nachbilden.


 

Noch mal Stools

Nach dem Rundgang sind wir wieder in die große Halle zurückgekehrt. Da wir inzwischen eine Vorstellung von der Konzeption der Erklärungstafeln hatten, haben wir überlegt, welches Unrecht oder welche Bedrängnis des Künstlers die Hocker darstellen sollen. Das Schild verrät, dass die Hocker teilweise mehrere hundert Jahre alt sind.

Es sind aber nur Hocker. Und sie bilden ein großartiges Kunstwerk.


 

Kritik auf hohem Niveau

Ich war am Ende enttäuscht. Ai Weiwei wird im Feuilleton als einer der größten lebenden Künstlern und als möglicherweise wichtigster chinesischer Kunstbotschafter dargestellt. Diesem Anspruch genügt er für mich am Ende nicht. Insgesamt sind die ästhetischen Mittel begrenzt, es fehlt die Eigenständigkeit, die einen großen Künstler unverwechselbar und wiedererkennbar machen. Er nimmt mehr von anderen Künstlern auf, als dass er selbst gibt.

Ai Weiwei ist ein politischer Aktivist. Die Repressionen, denen er in China  ausgesetzt wird, sind bedrückend. Große Teile der Ausstellung sind eine Reflexion der Unterdrückung des Künstlers und sind alleine weder zu verstehen, noch ästhetisch befriedigend. Die Unterdrückung bildet so die Funktionsvoraussetzung für die Kunst. Im Umkehrschluss heißt das, dass die Kunst ohne die Unterdrückung nicht funktionieren würde. Damit wäre Ai Weiwei auf die Unterdrückung angewiesen um Kunst schaffen zu können. Ein verstörender Gedanke.

Vielleicht wäre er ohne Unterdrückung aber auch in der Lage mehr großartige Kunstwerke wie „stools“ zu schaffen.

 
 Ai Weiwei – Evidence
 3. April bis 7. Juli 2014
 Öffnungszeiten
 MI bis MO 10:00–19:00
 DI geschlossen
 Ab 20. Mai: Täglich 10:00–20:00
 Martin-Gropius-Bau
 Niederkirchnerstraße 7
 10963 Berlin